Die salzige Brise wehte über die Klippen, während Rafael den alten Schlüssel in seinen Händen drehte. Sein Blick war auf das Metallstück fixiert, als ob es ihm Antworten geben könnte, die ihm bisher verborgen geblieben waren.
Lila beobachtete ihn still. Etwas an seiner Haltung, an der Art, wie er den Schlüssel mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Anspannung betrachtete, ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie wusste, dass dieser Fund mehr bedeutete als nur ein weiteres Rätsel.
„Weißt du, wohin dieser Schlüssel gehört?“ fragte sie schließlich.
Rafael sah auf, seine dunklen Augen durchdrangen sie. „Ich habe eine Vermutung“, sagte er leise. „Aber wenn ich richtig liege, wird das hier gefährlich.“
Lila schlang die Arme um sich, als ob sie sich selbst beruhigen wollte. „Ich bin nicht hierhergekommen, um kurz vor der Wahrheit zurückzuweichen.“
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. „Gut. Dann gehen wir.“
***
Sie verließen die Klippen und machten sich auf den Weg in den südlichen Teil des Dorfes, wo die Häuser seltener wurden und die Straßen in unbefestigte Pfade übergingen. Die Vegetation wurde dichter, wilde Büsche wucherten an den Rändern des Weges, und die Geräusche der belebten Marktplätze verblassten hinter ihnen.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel – eine alte, verfallene Villa, die von Efeu überwuchert war. Das eiserne Tor, das einst sicher verschlossen gewesen sein musste, hing nur noch lose in seinen Angeln.
„Hier?“ fragte Lila skeptisch.
Rafael nickte. „Meine Schwester hat diesen Ort in ihren Notizen erwähnt. Ich war noch nie hier, aber sie schrieb von einem Haus, in dem sie etwas zurückgelassen hat.“
Lila betrachtete das Gebäude. Die Fenster waren zerbrochen, das Dach an einigen Stellen eingestürzt. Trotzdem hatte das Haus etwas Erhabenes, als ob es einst voller Leben und Geschichten gewesen war.
„Was genau suchen wir hier?“
Rafael zog den Schlüssel aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. „Wenn er zu irgendetwas gehört, dann ist es hier.“
Mit vorsichtigen Schritten gingen sie durch das rostige Tor. Die Luft war erfüllt vom Duft feuchter Erde und vergessener Erinnerungen.
***
Sie betraten das Haus durch eine halb eingestürzte Veranda. Das Innere war dunkel, nur durch einige zerbrochene Fenster drang schwaches Licht. Staubpartikel tanzten in der Luft, und der Boden knarrte unter ihren Füßen.
„Sie hat hier gelebt?“ fragte Lila ungläubig.
„Nein,“ sagte Rafael. „Aber sie war hier – lange genug, um etwas zurückzulassen.“
Seine Finger glitten über die Holzwände, als ob er nach einem verborgenen Mechanismus suchte. Lila beobachtete ihn, bis ihr Blick auf eine alte Kommode fiel, deren Schubladen scheinbar unberührt waren.
„Vielleicht gehört der Schlüssel zu einer Schublade?“ schlug sie vor.
Rafael trat neben sie und betrachtete das Möbelstück. Die oberste Schublade war offen, aber die untere war verschlossen. Er kniete sich hin, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn vorsichtig. Ein leises Klicken war zu hören.
Lila hielt den Atem an, als Rafael die Schublade langsam aufzog.
***
Darin lag ein Umschlag, vergilbt vom Alter. Rafael nahm ihn mit zitternden Fingern heraus und öffnete ihn.
Es war ein Brief. Die Handschrift war dieselbe wie auf dem ersten Brief, den Lila gefunden hatte – die Handschrift von Rafaels Schwester.
Er begann zu lesen:
„Wenn du das hier liest, bedeutet es, dass ich nicht zurückgekommen bin. Ich weiß nicht, ob es noch eine Chance gibt, aber falls doch, wirst du den nächsten Schritt finden. Sie haben mich gefunden. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“
Rafael erstarrte. Lila spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief.
„Was bedeutet das?“ fragte sie leise.
Rafael ballte die Hand zur Faust. „Es bedeutet, dass sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Dass sie etwas gefunden hat, das jemand nicht wollte, dass sie es entdeckt.“
„Und was ist der nächste Schritt?“
Rafael hob den Blick, und in seinen Augen lag eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit.
„Das müssen wir noch herausfinden.“